Nachtschicht für Deutschland

Ein Video aus der Medienwerkstatt Freiburg U-Matic HB, Farbe und s/w BRD 1990, 20 min.


Der Film beginnt mit einem Foto: Berlin, 9. November 1989; BrandenburgerTor. Die Mauer ist gefallen; Freiheit leuchtet in den Gesichtern der Menschen, und Trompeten blasen der Wiedervereinigung den Marsch. Hunderttausende strömen aus der DDR ins Konsumparadies des Westens, warten in Baracken, Turnhallen und Schwimmbädern auf eine Wohnung und einen Job. Manche warten Monate, manche Jahre, während das Leuchten in ihren Augen verfliegt. Das ist eine Geschichte: Schwarzweiß-Fotos erzählen von diesem Weg in die Freiheit. An den Rändern der Fotos wird sichtbar, was vielen am Ziel ihrer Reise in den Westen blüht: die Arbeit am Band in einem durchrationalisierten westdeutschen Großbetrieb.

Hier spielt die zweite Geschichte des Films: bei Opel in Bochum, einem großen Automobilwerk, das zu General Motors gehört. Täglich verlassen fast endlose Züge mit neuen Wagen die Hallen, während das Verkehrssystem in den Großstädten kollabiert. Die Konzerne haben weltweit gigantische Überkapazitäten aufgebaut , ringen um Rationalisierungs- und Standortvorteile und wittern im Osten einen gigantischen Markt. Schwere Zeiten für die Gewerkschaften. Ziel der Konzerne ist es, die Maschinen möglichst rund um die Uhr laufen zu lassen. Die IG Metall will endlich die 35 Stunden Woche. Kompromisse zeichnen sich ab; Opel in Bochum ist ein Vorreiter. Die Dauernachtschicht wurde eingeführt. Die Mehrheit des Betriebsrats war dafür, eine linke Opposition dagegen. Ihr ist dieser Preis für die Arbeitszeit-Verkürzung zu hoch. Sie pfeifen auf die nationale Wettbewerbsfähigkeit und fordern eine internationale Gewerkschaftspolitik, um weniger erpreßbar zu sein.

Der Film "Nachtschicht für Deutschland" erzählt zwei Geschichten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun h~ben. Nur eine Szene macht deutlich, weshalb sie sich ständig berühren: ein junger Arbeiter aus der DDR bewirbt sich bei Opel für eine Stelle auf der Dauer-Nachtschicht. Die DDR-Übersiedler bilden, ob sie es wollen oder nicht, eine willkommene Reservearrnee auf dem Arbeitsmarkt. Die IG Metall steckt von zwei Seiten in der Klemme.

Die Musik zum Film "Nachtschicht für Deutschland" bedient sich im wesentlichen zweier Verfahren, die eng mit dem im Film Erzählten zusammenhängen.

So ist es durchaus programmatisch aufzufassen, wenn die Tonspur, unablässig die sei ben Muster repetierend, keinen Augenblick des Films nachläßt.

Ebenfalls Programm: Der Übergang des Sozialistenmarsches über die Hymne der DDR in diejenige der BRD, ein Übergang, der sich nicht im Zitat, wohl aber auf der Ebene des musikalischen Materials nach und nach vollzieht.

Hinzu kommt nun allerdings, daß durch die Kopplung und Überlagerung der zwei beschriebenen Verfahrensweisen ein neuer Aspekt die Oberhand gewinnt und Fragen provoziert nach dem Zusammenhang der drei "Hymnen", Fragen nach ihrer gemeinsamen Quelle und letztendlich auch ihrer Unterschiedenheit.

Damit soll keineswegs einer nivellierenden Position das Wort geredet werden. Allenfalls, die Frage sei gestattet, ob nicht die Tatsache, daß die scheinbar so unterschiedlichen Welten in ihrer musikalischen Äußerungsform so bruchlos sich zusammenfügen lassen, auch mit deren Inhalten etwas zu tun haben könnte!

"Gott erhalte Franz, den Kaiser!" - das war nun immerhin die Erste - und auf die läufts (so siehts im Moment leider aus) wieder raus.


Buch, Regie, Schnitt:
Helmut Bürgel, Didi Danquart; Kamera: Didi Danquart
Licht & Ton:
Ciro Cappellari
Musik:
Cornelius Schwehr
Fotos:
Ciro Cappellari; Didi Danquart, Andreas Neumann, Zenith (Berlin)

 

chronik